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Wo Meinungen aufeinander treffen

Vor Griechenland

Foto von Jakob Owens auf Unsplash

Autor und Sprecher

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Christian Spengler
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Thorsten A. Siefert

Technik und Gestaltung

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Thorsten A. Siefert

Foto von Jakob Owens auf Unsplash

Berichten zufolge leiden sie an Dehydrierung, Unterkühlung bis hin zur Lungenentzündung. Zwei Palästinenser, zwölf Pakistaner, 43 Ägypter, 47 Syrer. Einige von ihnen befinden sich im Krankenhaus. Sie leben. Sie haben überlebt. Sie sind 104 von ungefähr 750 Menschen, die sich tagelang auf einem Boot befanden mit der Hoffnung auf ein neues, besseres Leben auf dem Weg nach Italien.  Das Schiff mit dem sie unterwegs waren, sank vor Griechenland in der Nacht zum letzten Mittwoch, nicht weit entfernt vom Calypsotief im Mittelmeer. Und geschätzt 650 Menschen, sie verloren ihr Leben, 100 Kinder sollen auch dabei gewesen sein.

Das Ereignis hätte verhindert werden können. Was die griechische Küstenwache genau getan bzw. unterlassen hat, darüber besteht noch keine endgültige Klarheit. Sicher ist: Man hat das Schiff über mehrere Tage beobachtet. Der Pressesprecher der Behörde berichtet, dass zunächst Frachtschiffe in die Nähe des Flüchtlingsbootes kamen, Proviant und Wasser über-gaben. Rettungsofferten, die später ein Küstenwachboot unterbreitet hatte, seien zurückge-wiesen worden. Nach dem Ausfall des Motors sei es dann zu einer Panik an Bord gekommen, die schließlich zum Kentern geführt haben soll. 104 Menschen konnten gerettet werden. Bis Freitag suchte man nach weiteren Überlebenden, erfolglos. Die Aktion wurde schließlich eingestellt.

Die erste Diskussion, sie entbrannte darüber, ob es überhaupt hätte soweit kommen müssen. Wäre die griechische Küstenwache nicht verpflichtet gewesen, in jedem Fall eine Rettungsaktion einzuleiten? Nach den Angaben der Behörde sei das von den Flüchtlingen nicht gewollt worden. Schwierig, denn einige Überlebende berichten das Gegenteil.

Schlimmer allerdings die nun laut werdenden Vorwürfe: Die Küstenwache habe versucht, das Flüchtlingsboot mehrfach in Richtung Italien zu ziehen. Eine Art von Pushback, ein Zurückstoßen, damit man nicht nach Griechenland gelangt. Von insgesamt drei Versuchen berichten die Überlebenden. Dies hätte dazu geführt, dass ihr Schiff schließlich instabil geworden und dann gekentert sei. Zu der Schilderung passt, dass man auf Fotos ein am Steuerbord des Bootes befestigtes Seil sehen kann. Zunächst wurden Berichte über den Versuch einer Pushback-Aktion von einem griechischen Regierungssprecher zurückgewiesen. Am Freitag gab man dann doch zu, dass „ein Seil geworfen worden sei“, allerdings etwa zwei Stunden vor dem Untergang.

Unter den Überlebenden: Der Kapitän des Flüchtlingsbootes und 8 Schleuser. Sie alle sind Ägypter. Nachdem diese zunächst nach Kalamata verbracht worden waren, wurden sie dort nun festgenommen.

Entsetzlich die Katastrophe, im Raum die Frage nach der Schuld. Es gibt zu diesem Zeitpunkt keine vollständig gesicherten Erkenntnisse. Natürlich hätten die Schleuser die Menschen nicht der Gefahr aussetzen dürfen, selbstverständlich hätte die Küstenwache schon beim Entdecken des Bootes eine groß angelegte Rettungsaktion starten müssten, einfach aufgrund dessen, was man sehen konnte. Stimmen die Vorwürfe, dass man versucht hat, das Flüchtlingsschiff in Richtung Italien zu pushen und diese Aktion den Untergang verursacht hat? Bei geschätzt 750 Menschen auf einem viel zu kleinen Boot hätte man das doch niemals auch nur erwägen dürfen.

Was hier geschehen ist, zeigt was eben nicht geschehen darf. Wird das durch die unlängst beschlossenen Maßnahmen der Reform des europäischen Asylrechts verhindert werden können? Nein, wenn Menschen kommen wollen, dann kommen sie, nicht abschätzbare Gefahren für ihr Wohl und Leben in Kauf nehmend. Und sie haben – diesen Standpunkt vertrete ich nochmal sehr deutlich – jedes Recht zu kommen. Die Europäer, viele von uns, leben in einer unvergleichlichen Wohlstandsblase. Es sind Bedingungen, von denen ein großer Teil der Menschheit auf diesem Erdball nur träumen kann. Sich abschotten, sie zurückweisen oder inhaftieren – nichts davon wird verhindern, dass sie sich auf den Weg zu uns machen.

Viele Optionen haben wir nicht: Nachhaltig helfen und mit großem finanziellem Aufwand die Menschen unterstützen, da wo vor Ort die Möglichkeit besteht auf der einen Seite. Auf der anderen Seite die Tore offenhalten für alle, die sich – aus welchem Motiv heraus auch immer – zur Flucht nach Europa entscheiden. Es ist die Humanste unserer Aufgaben, für sie hier einen Platz zu finden. Dafür werden wir uns vielleicht einschränken müssen, auch unser Leben wird sich verändern. Ein Teil dessen, was wir besitzen, werden wir vielleicht mit ihnen teilen müssen. Das aber ist in keiner Weise vergleichbar mit dem, was die Flüchtlinge sich selbst abverlangt haben: das bisherige Leben hinter sich lassen, um ganz woanders auf dieser Welt neu anzufangen. Das ist etwas, was die Meisten von uns sich nicht einmal vor-stellen können. Die bei uns Ankommenden werden vieles neu lernen, sich an eine fremde Umgebung gewöhnen und sich in einer anderen Kultur zurechtfinden müssen. Bei all dem brauchen Sie vor allem eines von uns: Unterstützung.