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Ein Punkt

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Autor und Sprecher

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Christian Spengler
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Thorsten A. Siefert

Technik und Gestaltung

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Thorsten A. Siefert

Foto von George Becker

Mathematik in der Grundschule, weder das Fach noch das gleichnamige Lehrwerk fanden auch nur den Hauch meines Interesses. Final konfrontierte man mich mit der „Einführung in die Infinitesimal- rechnung“, das war das letzte Mathebuch, das ich besaß. Seltsame Zeichen und Abbildungen enthielt es, manche davon habe ich farblich umgestaltet, so dass sie fröhlicher wirkten. Schullebenslang hatte ich zu dem Fach, bei dem es um die Einhaltung und das strikte Befolgen von Regeln geht, wo alles korrekt und mit einer Probe zu überprüfen ist, kein Verhältnis. Ach doch, die Rechenkästen mit den bunten Elementen für Mengenlehre fand ich ganz ansprechend, damit konnte man so schöne Muster legen. In der 12. Klasse wählte ich das Fach schließlich ab, für diese Möglichkeit möchte ich dem Land Niedersachsen noch heute danken. In Rechnungswesen sowie Betriebs- und Volkswirtschaftslehre verfolgten mich Zahlen, Formeln und Graphen bis zum Abitur. Das allerdings konnte ich herrlich ignorieren, es stand wenigstens nicht mehr die ungeliebte Fachbezeichung im Stundenplan.
In diesen Tagen in den Schlagzeilen, die nachträgliche Anhebung des Ergebnisses der Abiturklausuren in Mathematik um einen Notenpunkt in Mecklenburg-Vorpommern. Und schon stöhnt das Land auf. Stefan Düll, neuer Präsident des Lehrerverbands, sprach von einer Verzerrung der bundesweiten Vergleichbarkeit der Noten. Aus der Wirtschaft kamen ebenso kritische Stimmen. In der Anwendung der Mathematik im Handwerk müssten Ergebnisse von Berechnungen ja auf jeden Fall richtig sein.
Was hatte zur minimalen Anhebung der Note geführt? Die Abiturienten des aktuellen Jahrgangs, sie waren während der Pandemie zeitweise im Fernunterricht gewesen. Zudem sei die Bearbeitungszeit in einer Nachbetrachtung durch Fachleute als nicht ausreichend eingestuft worden. Lahme Entschuldigungen?
Ich finde nicht. Zunächst ein Blick auf die zu geringe Bearbeitungszeit. Sie kann erhebliche Auswirkungen auf das Ergebnis einer Klausur haben. Vielleicht wählt man einen falschen Ansatz und bemerkt es zu spät. Dann ist ein Neu-Berechnen schwierig. Oder man versteht den Aufgabentext nur mit Mühe, findet vor lauter Eile nicht die benötigten Werte zum Weiterarbeiten. Schüler, die mit der Mathematik hadern, für sie ist die fehlende Arbeitszeit eine Katastrophe. Und dann gibt es noch junge Menschen, die durch einen zu knappen Zeitansatz bedingt die Arbeit einfach hinschmeißen. Gerne auch unter lautem Protest. Ich kenne jemanden. Es ist aus meiner Sicht also essenziell, gerade für schwache Schüler, dass bei der Konstruktion der Aufgaben genügend Zeit eingeplant wird, damit es nicht zur Verunsicherung oder gar Panik bei den Prüflingen kommen kann.
Corona: Die Pandemie, sie ist doch lange vorbei. Und die Schüler, sie hatten ausreichend Gelegenheit im fantastischen Fernunterricht und bei den deshalb schon fast überflüssigen Aufholkursen ihr Wissen zu vertiefen und zu sichern. Ja, vielleicht. Aber vielleicht auch nicht. Es bestand auch die Möglichkeit, des Scheiterns. Wie das? Wenn die Anbindung ans Internet und die technische Ausstattung zuhause nicht ausreichten? Wenn eine Unterstützung durch die Eltern in Ermangelung der benötigten Kenntnisse und fehlender Zeit nicht möglich war? Wenn die Bezahlung von Nachhilfe eine unüberwindbare Finanzierungshürde darstellte? Und wenn die wundervolle pädagogische Haltung mancher Lehrer an den ohnehin eher konservativ ausgerichteten Gymnasien nicht über ein „Das musst du selbst nacharbeiten!“ hinaus ging. Sicher für mich ist, dass ich unter diesen Umständen nicht zum Abitur gelangt wäre. In einem Land wie der Bundesrepublik, in der Bildungschancen nach wie vor davon abhängen, in welche Familie man geboren wird, hat die Pandemie sicher nicht zu mehr Bildungsgerechtigkeit geführt. Eher steht zu befürchten, dass Bildung als Eigentum in bestimmten Schichten der Gesellschaft gesichert wurde und wenn es nach diesen geht, dort besser exklusiv verbleiben soll.
Da war noch die Sache mit der Vergleichbarkeit. Als ich 1988 nach einem Um-Umweg das Abitur ablegte, war mir klar, dass es für mich in Bremen einfacher und in Bayern geradezu unmöglich gewesen wäre, den gewünschten Bildungsabschluss zu erlangen. Heute setzt man mehr denn je auf Vereinheitlichung. Aber ein Notenpunkt? Handelt es sich bei dem in Mecklenburg-Vorpommern auf das Ergebnis der Mathematikklausuren aufaddierten Notenpunkt um eine ungeheure Ungerechtigkeit gegenüber allen anderen Abiturienten des Jahrgangs 2023?
So ein Punkt, er kann viel ändern, zum Beispiel einen Unterkurs in einen solchen verwandeln, der ins Abitur eingebracht werden kann. Hat das Land Mecklenburg-Vorpommern die Maßnahme nachvollziehbar begründet? Für mich lautet die Antwort ja. Was mich wirklich freut: Die Einsicht auf der Seite der Bildungsanbieter, dass man etwas hätte besser machen können und das Herstellen eines Ausgleichs. So klingt für mich Gerechtigkeit.