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Wo Meinungen aufeinander treffen

Sich abwenden – früher und heute

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Autor und Sprecher

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Christian Spengler
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Thorsten A. Siefert

Technik und Gestaltung

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Thorsten A. Siefert

Foto von RDNE Stock project

Es war ganz einfach. Ein Besuch beim örtlichen Standesamt, ein Formular, eine Unterschrift. Fertig. Unkompliziert. Als ich aus dem Verwaltungsgebäude, in welchem ich meine Willenserklärung abgegeben hatte, heraustrat, war der Akt des Austretens auch fühlbar. Und es fühlte sich unglaublich gut an. Die Evangelische Kirche und ich, ein Trennungsfall. Es war höchste Zeit und vor 20 Jahren.

Gründe gab es genug: Einer fand sich zunächst einmal tatsächlich auf meiner Gehaltsabrechnung. Es waren zwischen 60 und 80 D-Mark, die mein Arbeitgeber monatlich in meinem Namen dem Klerus zukommen ließ. Das ärgerte mich. Viel Geld. Zu viel Geld wie ich fand. Für keine Gegenleistung, wie ich feststellte. Danke, nein. Von dem Eingesparten im Monat zusätzlich drei neue CDs kaufen, das fand ich seinerzeit eine wunderbare Aussicht. Rein finanziell eine gute Entscheidung, damals, jetzt und in der Zukunft.

Und natürlich bedarf es der Erwähnung, dass ich bis heute keine Notwendigkeit darin erkennen kann, in einer Gemeinschaft Mitglied zu sein, die meine Existenz und den von mir gewählten Lebensstil als schwuler Mann maximal toleriert. Ich möchte nicht toleriert werden, ich brauche niemanden der mich toleriert. Das Wort in einem solchen Kontext überhaupt zu gebrauchen ist eine Unverschämtheit, eine bodenlose Frechheit und An-maßung. Man darf mich gerne akzeptieren. Das steht mir zu, wie jedem anderen Menschen auch.

Theologie zu studieren um Pastor zu werden Mitte der neunziger Jahre und sich dabei seiner sexuellen Orientierung noch nicht sicher zu sein – das löste bei Betroffenen Angst aus. Ich entsinne mich an eine Unterhaltung über dieses Thema mit einem Mitstudenten bei einem Spaziergang an einem grauen Novembertag entlang des Maschsees in Hannover. Sorge um die Zukunft haben, weil man vielleicht Männer liebt. Wie mein damaliger Gesprächspartner sich nun auch immer ausgerichtet haben mag, er ist schließlich Pastor geworden. 

Dann wäre da noch die Kirche als Arbeitgeber, da habe ich gute und sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Zuverlässig und zugewandt auf der einen Seite, fordernd, schlecht zahlend und gängelnd auf der anderen. Stoff für mindestens ein Buch.

Nun aber zum Anlass dieses Artikels. Die katholische Kirche, sie verliert zunehmend Mitglieder. 500.000 Menschen verließen die Glaubensgemeinschaft im vergangenen Jahr, 2021 waren es bereits 359.000 gewesen.

Gründe dafür gibt es reichlich. Da sind zum einen die Meldungen über immer wieder bekannt werdende Missbrauchsfälle und den Umgang der katholischen Kirche damit. Deutlich wurde, zuletzt auch in einem Prozess gegen das Erzbistum Köln, in welchem es zu einem Schmerzensgeld von 300.000 € verurteilt wurde, welches Leid jungen Menschen hier angetan wurde. Auch die Vorwürfe gegen den verstorbenen Papst Benedikt, der in seiner Zeit als Kardinal einer Sitzung beigewohnt haben soll, bei der man beschloss, einen schon einschlägig aufgefallenen Priester nach Bayern zu versetzen, mögen für manchen  Katholiken Grund genug gewesen sein, die Kirche zu verlassen.

Der Hamburger Erzbischof Heße sieht weitere Probleme. Er vermutet, dass Menschen gehen, weil sie an eine Veränderung in der Kirche nicht glauben oder ihnen ein möglicher Modernisierungsprozess zu lange dauert. Ähnlich sieht es die Präsidentin des Zentral-komitees der deutschen Katholiken. Die Kirche zeige sich aktuell nicht entschlossen genug, Visionen des Christseins umzusetzen, so Irme Stetter-Karp. Reformen seien dringend erfor-derlich. Und damit es überhaupt weitergehe, müsse man innerhalb der Kirche dafür kämpfen. Das, so sagte sie der Zeit, sei beschämend.

Bei den evangelischen Glaubensbrüdern sieht es übrigens nicht besser aus. Sie verloren 2022 380.000 Mitglieder. Wenn so viele Menschen mit den Füßen abstimmen, sich abwen-den, dann gelingt es Kirche offenbar nicht, ihre zentrale Aufgabe wahrzunehmen. Nämlich ein Ort zu sein, wo Gläubige zueinander finden, Gemeinschaft leben und erleben können, darüber sprechen, was sie bewegt, Orientierung erhalten, Sinnfragen klären. Kirche könnte so viel, im Moment allein gelingt es ihr offenbar nur schlecht, das zu sein oder es überzeugend zu zeigen. Traurig für jene, die glauben und sich einen Ort der Zusammenhalts und der Geborgenheit dafür wünschen.